Sonntag, 23. August 2009

Leichtathletik WM

50.000 Deutschland-Fans springen auf und feiern was das Zeug hält als der Stadionsprecher es ausspricht: 20,20 Meter! Das reicht für den zweiten Platz. Nadine Kleinert hat mit der starken Leistung eine ganze Nation von den Socken gehauen und die Silbermedaille bei der Leichtathletik WM an sich gerissen.

Die Augen wandern weiter zu einer der technisch anspruchsvollsten Disziplin: dem 7-Kampf. Bis dato sind wir relativ gut dabei, vor allem beim Speerwurf hat Jennifer Oeser gute Punkte gemacht und stand auf dem dritten Platz. Wenn sie bei dem 800-Meter-Lauf ganze drei Sekunden schneller ist als die Polin Kamila Chudzik ist die Silbermedaille ihre. „Das Einzige was mich jetzt noch aufhalten kann ist ein Sturz.“, spricht der Profi nervös in die Kamera. Der Startschuss fällt und noch sitzen alle. 58 Sekunden, 59 Sekunden, eine Minute vergehen bis es dann passiert. Was nur ein flotter Spruch sein sollte, gefährdet nun den ganzen Rang: Jennifer Oeser stürzt. Ein Raunen geht durch das Stadion, alle Träume scheinen den Bach runter. Vier Jahre harte Arbeit, zwei Tage erbitterte und Kraft zerrende Disziplinen - zerstört in nur einer Sekunde. Sie fällt zurück, ist jetzt die Letzte. Während sie noch liegt, haben wir uns längst erhoben und nun feuern abermals die 50.000 Fans alle gleichzeitig die Deutsche an. Aber wir stützen und trösten nicht, wir hoffen und beten nicht, wir glauben und wissen das noch alles drin ist. Jennifer Oeser fällt zwar in Zeitlupe, aber unsere Motivation steigt in Sekundenschnelle. Sie steht wieder auf, aufgeben ist nicht drin. Adrenalin pumpt durch ihren Körper und sie rennt. Sie rennt aber nur kurz, denn alles danach ist nur noch überholen. Siebte, Sechste, Fünfte, jetzt Vierte. Ein Land steht Kopf. Sie überholt weiter, sie ist Dritte. Alle wissen, der Spurt kostet Kraft, die wird ihr am Ende fehlen, aber daran denkt keiner. Jetzt sind wir alle Momentmenschen und jubeln uns – und sie – in Ekstase. Da kommen die letzten 100-Meter und Jennifer Oeser ist Dritt… Vierte, sie ist zurück gefallen, aber die Polin noch hinter ihr. Alle jubeln, der Moderator ergreift das Wort – doch keiner hört zu. Alle feiern bis jedem klar wird: „Die Zeit zählt“ und „Wo ist die Polin?“ Gleichzeitiges Kopfdrehen, wir gucken Richtung Tafel. Zeit, Zeit, Zeit, komm schon, zeig Dich. Da! Aber wir können nichts erkennen. Zu weit weg, zu schlechte Augen, zu kleine Schrift. Das Ergebnis ist live, aber noch freut oder seufzt keiner. Die Sekunde zwischen Silber und Bronze ist eine geladene Bombe: Wir wissen nur noch nicht, ob es eine großes oder ein kleines Feuerwerk werden wird. Noch immer keine Reaktion, wir können aber erkennen, dass die Polin hinter ihr ist. Warten, warten, versuchen zu entziffern, warten bis der Moderator spricht – synchrones Klappe halten funktioniert: SIE HAT ES GESCHAFFT! Silber! Die silberne Medaille ist sicher! Mit 238 Punkten weniger als Jessica Ennis holt sich Jennifer Oeser den zweiten Platz bei den diesjährigen Meisterschaften. Das Land, das vorhin Kopf stand, rastet nun vollkommen aus. Zweimal Silber in ein paar Minuten, es ist unglaublich – und dabei haben wir noch den Höhepunkt vor uns: 100-Meter Sprint. Die Königsdisziplin für uns Laien.

Wir sehen die Line-Up und können unseren Augen kaum glauben: Asafa Powell, Weltrekordhalter 2007, steht neben Tyson Gay, der mit 9,69 auf 100 Meter (leider mit Rückenwind, weswegen der Rekord nicht anerkannt wurde) als die einzige Herausforderung für Usain Bolt gilt. Dieser steht daneben und macht sich hübsch für die Kamera. Wir können das gar nicht glauben: Da stehen solche Monster nebeneinander auf der Bahn und wir dürfen das miterleben. Als der Moderator die Namen der anderen erwähnt ist es – es tut mir leid – allen klar: Die sind doch eh nur Kanonenfutter. Der wahre Kampf findet in der Mitte statt.

Die Menge ist noch gehyped von den Wettbewerben davor, wir alle erwarten herausstechende Leistungen und einen spannungsgeladenen Sprint mit Action und großen Augen. Vorhin schwieg eine ganze Nation, doch dieses Mal gab niemand ein Mucks von sich. Weder die Deutschen, noch die Jamaikaner, die Engländer, usw. Alle waren sie still. Auch von uns hatte niemand vor den Start zu verpassen. Ich meine, das sind nicht einmal zehn Sekunden und alles ist vorbei. Da darf man nicht mal blinzeln! Ich halt es nicht aus sitzen zu bleiben, also stehe ich auf. Kribbeln in den Beinen, in den Armen, im ganzen Körper. Ein schneller Blick nach rechts und links und ich sehe: Kollektives Kribbeln. Der Startschuss fällt und schon auf den ersten Metern zeigt sich, dass Usain einfach unschlagbar ist. Die langen Beine, der schnelle Antritt und eine aerodynamische Figur lassen den schlaksigen Jamaikaner schneller als Gay und Powell in das Ziel katapultieren. Ich hatte nicht einmal Zeit zu begreifen was geschehen war, habe nur einen kleinen Blinz des Sprints in Erinnerung und da war es auch schon zu Ende. Das ganze Stadion, ohne Schmarn, das ganze Stadion sprang auf und feierte und klatschte und applaudierte und freute sich. Mein erster Blick fiel auf die Uhr – und meine Augen weiteten sich. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke. Wie von alleine streckt sich mein Arm nach vorne, mein Finger zeigt auf die Uhr und ich schreie: „WELTREKORD!“ Der Typ neben mir ergreift meinen Arm, sieht mich an und schreit: „OH MEIN GOTT! 9,58!!“

Unglaublich.

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